Seit 2016 organisiert „Shades Tours Vienna“ Touren zu den Themen Armut und Obdachlosigkeit. Das Besondere daran: die Guides, denn diese sind persönlich von Obdachlosigkeit betroffen. Ziel der Führung ist nicht nur die Re-Integration der Tourführer:innen, sondern auch die sozialpolitische Bildung der Teilnehmer:innen.
Nur wenige Menschen wissen, wie die Realität eines obdachlosen Menschen ausschaut. Das Wiener Unternehmen „Shades Tours“ will hier Abhilfe schaffen, in dem es Informationen aus erster Hand beschafft. Es werden Touren von (ehemals) Obdachlosen selbst geleitet, mit dem Ziel mehr Aufklärung über das Thema zu erreichen. Dadurch erhalten die Guides nicht nur eine Einkommensquelle, sondern auch Motivation, Selbstvertrauen und die Zeit, um den Weg aus der Obdachlosigkeit zu beschreiten.
In Zusammenarbeit mit sozialen Einrichtungen in Wien richtet sich das Angebot der Exkursionen vorwiegend an Schüler:innen (Volksschule bis Oberstufe), Interessierte und Unternehmen.
Obdachlosigkeit auf Augenhöhe
Das Konzept „Touren geführt von Obdachlosen“ ist dabei kein Neues. In zahlreichen europäischen Städten wie Amsterdam, Prag, Barcelona und Berlin existiert dieses bereits. Seit 2016 zählt auch Wien dazu.
Die Gründerin Perrine Schober, eine gebürtige Wienerin, ist im Bereich des Tourismusmanagements tätig. Sie erklärt in einem Statement, dass sie ein auf Wien maßgeschneidertes Tourenkonzept entwickeln wollte, der sowohl Tourismus als auch soziales Engagement vereint. Hinter dieser Grundidee wurde „Shades Tours Vienna“ ins Leben gerufen, die zur Verbesserung der Lebensverhältnisse von Obdachlosen und Wohnungslosen verhelfen soll:
– Perrine Schober„Ich habe mich gefragt, wo der Mehrwert meiner Arbeit liegt. Ob es nicht möglich ist, mit dem was ich kann, aus einem Minus ein Plus zu machen. Etwas, was negativ besetzt ist, wo man meist mitleidig-angeekelt nach unten schaut, so zu zeigen, dass man den Menschen, um die es geht, auf Augenhöhe begegnet.“
Perrine Schober beim Pitch des Konzeptes für „Shades Tours Vienna“ in 2016
(c) ÖkoBusinessPlan Wien Frank Helmrich
Aktuell sind vier Personen, die zuvor von Obdachlosigkeit betroffen waren, als Guides für die Organisation tätig. Das Tourthema „Armut und Obdachlosigkeit“ zählt als das erste etablierte Projekt von Schober. 2018 und 2019 wurde das Portfolio des Unternehmens um die Themen „Flucht und Integration“ sowie „Sucht und Drogen“ erweitert.
Die Aktivitäten des Unternehmens variieren von sozial-politischen Stadtführungen und Präsentationen bis hin zu Corporate Volunteering. Auf der Webseite wird auch die Antwort auf die Frage, warum es diese Organisation gibt, beantwortet:
„Weil wir glauben, dass es zu viele falsche Stigmen und Vorurteile gegenüber obdachlosen, geflüchteten und suchtkranken Menschen gibt! Diese hemmen die (Re-)Integration in den Arbeitsmarkt.“
– Shades Tours Vienna
Abseits von Stephansdom, Mozartkugeln & Co.
„Shades Tours“ bietet weit mehr als herkömmliche Sightseeing-Touren: In einem zweistündigen Spaziergang durch Wiens Straßen, werden Orte besucht, die mit Armut und Obdachlosigkeit verbunden sind.
Die Guides teilen ihre persönlichen Herausforderungen im Umgang mit diesen Themen und beantworten Fragen zu Obdachlosigkeit und sozialer Ausgrenzung. Neben Fakten und Zahlen verleihen die individuellen Lebensgeschichten der Guides den Touren einen emotionalen Aspekt.
Einer dieser Guides ist Josef. Nachdem er seine Frau unerwartet verlor und anschließend mit Alkoholproblemen zu kämpfen hatte, fand er sich schließlich in der Obdachlosigkeit wieder. Für 15 Jahre hatte er kein Zuhause und verbrachte drei davon auf der Straße. Seit August 2022 ist er Tour-Guide bei „Shades Tours“ und seit 2023 im Besitz einer kleinen Wohnung im Neunerhaus. „Man wurde kaum beachtet, man war am Rande der Gesellschaft.“, erzählt er den Teilnehmer:innen über seine damalige Zeit auf der Straße.
Innerhalb der Führungen erhält man zudem Einblicke in das Sozialsystem Wiens und lernt die Anlaufstellen für Betroffene kennen. Beispiele dafür wären die Caritas oder Einrichtungen wie die Gruft. Die Tour erstreckt sich über mehrere Stationen, die jeweils von zentraler Bedeutung im Kontext der Obdachlosigkeit sind. Die Routen wechseln sich immer wieder ab und werden je nach Tourguide ausgewählt.
Mit Blick auf die Zukunft
Der Lösungsansatz der „Shades Tours“ geht auf: Seit Beginn des Projekts konnten mehrere Guides durch die Teilnahme an den Touren ihre Obdachlosigkeit überwinden.
Der Grund: Die neuen Maßstäbe im Kampf gegen Obdachlosigkeit. Obdachlose werden als Guides zu Experten in den Themen Armut und Obdachlosigkeit ausgebildet. Dieser Ansatz verändert die gesellschaftliche Wahrnehmung und ermöglicht den Guides, neue Strukturen zu schaffen als auch Glauben und Hoffnung zurückzugewinnen.
Auf der Instagram-Seite „shadestours“ werden nicht nur die Touren festgehalten. Es werden auch Informationen über die Auswirkungen der Initiative angegeben.
(c) Amira Ali
Die Guides überwinden nicht nur persönliche Hürden wie Ängste und Depressionen, sondern sparen durch ihre Tätigkeit als Guide gezielt für eine neue Wohnmöglichkeit. Die Initiative fördert nicht nur die finanzielle Stabilität, sondern verändert auch die soziale Rolle der Guides von hilfsbedürftigen Personen zu Spezialisten.
Durch die Mitarbeit bei „Shades Tours“ werden die Guides Teil einer Gemeinschaft, können sich aktiv einbringen und erhalten eine Beschäftigung sowie Empowerment. Diese Erfahrungen und Kontakte können ihnen bei der langfristigen Jobsuche helfen. „Shades Tours“ fördert dabei auch die Fähigkeiten der Betroffenen und bietet Unterstützung bei Weiter- und Ausbildung sowie der Wohnungssuche.
Mithilfe der Führungen werden auch mehr Menschen auf Obdachlosigkeit sensibilisiert. „Die Menschen gehen mit Obdachlosen, im Vergleich zu früher, viel sensibler um“, antwortet Tour-Guide Josef im Gespräch mit den Teilnehmer:innen. Auch macht er den Zuhörer:innen bewusst, dass Obdachlosigkeit jeden und jede treffen kann. Die „Shades Tours“ bieten dabei eine Gelegenheit, einen Schritt auf diese Menschen zuzugehen und ihnen entgegenzukommen.
Aber sie ermöglichen auch einen Schritt zu einer stärkeren sozialpolitischen Bildung zum Thema „Obdachlosigkeit“. „Man lernt wie das Leben für Obdachlose ist und welche Anlaufstellen es für sie gibt, aber auch wie man selbst, als normaler Bürger oder normale Bürgerin, helfen kann“, betont eine Teilnehmerin.
„Shades Tours“: Ein ganzheitlicher Ansatz, der nicht nur die Situation der Obdachlosen verbessert, sondern auch Perspektiven für eine bessere Zukunft schafft.
INFO: In Österreich leben acht Millionen Menschen, mit Stand November 2023 sind 20.000 davon obdachlos. 60 Prozent der Betroffenen sind dabei in Wien. Die Zahl der registrierten Obdach- und Wohnungslosen ist laut der Statistik Austria 2021 gegenüber dem Vorjahr von 20.177 auf 19.450 Personen zwar leicht gesunken, dennoch: Die Dunkelziffer liegt aufgrund der verdeckten Obdachlosigkeit oder fehlendem Anspruch weit höher.
Weiterführende Links
Wohnungslosenhilfe von der Stadt Wien
Hinweise zur Bebilderung
Beitragsbild: Toursituation (c) Eugenie Berger