Ein Wohnzimmer im fünften Bezirk
Im Sprachencafé geht es um mehr als nur das Sprachenlernen – Menschen verschiedener Herkunft kommen hier zusammen. Was woanders zu Konflikten führen kann, bringt hier Verbindung zwischen Kulturen.
Hannah Ludmann

Heute aufgetischt: Deutsch. Foto: Hannah Ludmann
Für die meisten Menschen in Österreich ist der 20. März ein normaler Tag, für Mohammed aber ist es das Highlight des Jahres. Er hält das Handy unter den Tisch, um die anderen nicht zu stören. Stolz zeigt er auf seinen zerkratzen Bildschirm. Verpixelte Videos mit kurdischer Musik erscheinen, Männer in traditionellen Kostümen besteigen schroffe Felsen und halten Fackeln in die Luft. Er ist Kurde und feiert jeden Frühling Nouruz, das kurdische Neujahrsfest. Den 20. März verbringt Mohammed schon seit Jahren nicht mehr dort, wo die Feuer am Berg entfacht werden und Menschen im Kreis tanzen, sondern an den Donau-Wiesen oder am Karlsplatz. Mohammed kommt aus einer kleinen Stadt in Syrien, lebte Jahre in der Türkei und wohnt nun mit seiner Frau und seinen Kindern in Wien. Hier feiern die Menschen Krampusläufe und kein Nouruz, sie sprechen Deutsch und kein Kurdisch.
Zwischen Zuhause und Heimat
An diesem kalten Donnerstag im Dezember sitzt Mohammed im Sprachencafé des Vereins Station Wien. Heute ist er einer von 14 Männern, die an diesem Tisch Deutsch lernen und sprechen möchten. Die meisten von ihnen sind in den vergangenen Jahren aus dem Nahen Osten nach Europa geflohen. Hier, am Einsiedlerplatz im fünften Bezirk rücken die Männer zusammen, der Platz wird knapp, obwohl der Tisch groß ist. An einer Seite sitzt Magdalena, sie spricht weder arabisch noch kurdisch, dafür jedoch Deutsch als Muttersprache. Seit anderthalb Jahren kommt sie als Ehrenamtliche in das Sprachencafé. Kurz nach 17 Uhr beginnt Magdalena mit der Begrüßungsrunde an ihrem Deutschtisch.
Austausch durch Sprache
Dreimal die Woche für insgesamt neun Stunden werden hier von Freiwilligen wie Magdalena verschiedene Sprachentische für Frauen und Männer unterschiedlichster Herkunft angeboten. Kostenlos und ohne Anmeldung kann ins Sprachencafé kommen, wer möchte. Seit elf Jahren findet das Sprachencafé im Rahmen des „Kontaktepool“ der Station Wien statt. Ziel ist es, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund in den Austausch zu bringen und Kontakte zu knüpfen. Dass der Spracherwerb dabei nicht auf der Strecke bleibt, weiß Barbara Hofer, Lehrerin am Sozialwissenschaftlichen Gymnasium Bozen. Sie entwickelte einen Leitfaden für Lerneinheiten in Sprachencafés. „Die Lernenden erhalten Einblick in das Funktionieren noch nicht bekannter Sprachen und entwickeln dadurch ein höheres Sprachenbewusstsein. Sie erweitern ihr Wissen über andere Sprachen und Kulturen.“ Auch deswegen wird das Projekt von der Europäischen Union, vom Bundeskanzleramt sowie der MA17 der Stadt Wien kofinanziert. In der Hauptstadt lebt auch der mit Abstand höchste Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in Österreich. Knapp die Hälfte der Einwohnerinnen und Einwohner dort sind im Ausland geboren bzw. sind Kinder von im Ausland geborenen Eltern. Die meisten von ihnen kommen aus Deutschland, auf Platz zwei der wichtigsten Herkunftsländer liegt Syrien. Deswegen soll laut Integrationsbericht 2023 in Zukunft besonderes Augenmerk auf den Deutscherwerb bei Zugewanderten gelegt werden.
Bratäpfel und Baklava
In dem Raum am Einsiedlerplatz wird es laut und draußen dunkel. Weiter hinten spricht eine Gruppe Englisch, dahinter sind Sätze auf Portugiesisch zu hören. Besonders schwierige Wörter schreibt Magdalena auf einen Zettel, Mohammed greift sich einen Stift und tut es ihr nach. Freiwillige bringen Tee und Kekse an die Tische. „Das Sprachencafé ist wie ein Wohnzimmer für viele der Leute, die zu uns kommen“, sagt Anna Schwendinger. Seit fünf Jahren arbeitet sie als Projektkoordinatorin im Sprachencafé, sie kennt die meisten hier beim Namen. Dass das Konzept der Einrichtung funktioniert, merkt sie daran, dass die Nachfrage auch nach Jahren groß ist. Zwischen 100 und 130 Teilnehmende kommen jeden Abend ins Sprachencafé, manche davon seit Jahren. Laut Schwendinger liegt das nicht nur an dem niederschwelligen Einstieg in eine fremde Sprache. Besonders der Austausch mit Einheimischen und das Gefühl Teil der Gesellschaft in der neuen Heimat zu werden, sei für viele Motivation immer wiederzukommen.
Vielfalt vor Weihnachten
Um kulturelle und soziale Isolation zu umgehen, kommt auch Mohammed, sagt er. „In Österreich ist es schwer, Leute kennenzulernen.“ Sein Deutsch ist noch lückenhaft, wenn ihm beim Sprechen Vokabeln nicht einfallen, springt sofort jemand vom Tisch ein. Etwas zögerlich greift er zu den Weihnachtskeksen auf dem Tisch. Das Thema der heutigen Stunde: Traditionen und Feste. Magdalena erzählt in langsamen Sätzen von Bäumen in Wohnzimmern, von Engeln und einem Stall. Mohammed tippt „Weihnachtsbaum“ in seine Übersetzungsapp. Nacheinander berichten alle in der Runde von ihrem Lieblingsfest in ihrer Heimat. Keiner von den Männern an diesem Tisch verbringt das Zuckerfest, Ramadan oder Nouruz dort, wo sie es sonst gefeiert haben. Sie berichten von Tänzen und Datteln, von Familie und Sonne. Zwischen Zuckerfest und Weihnachten liegen heute nur ein paar Kekse und Stifte.